In der Republik Berg-Karabach herrscht eine humanitäre Katastrophe. Obwohl es heute verrückt klingt, bleibt es eine Tatsache. Länder, die als zivilisiert gelten, tun in Wirklichkeit nichts, um 120.000 Menschen zu retten, die ohne Nahrung, Medikamente und andere überlebensnotwendige Mittel zurückbleiben. Hier ist, was die Korrespondenten der Zeitung «Die Zeit» darüber schreiben.
Bergkarabach: Von der Welt vergessen
Seit einem Monat wird die Enklave Bergkarabach von Aserbaidschan regelrecht ausgehungert. Es fehlt an allem – an Essen, Benzin, Medikamenten. Über eine nahende Katastrophe
Von Alice Bota und Maria Mitrov
Aktualisiert am 10. August 2023,
Immer wieder demonstrieren die Armenier in Bergkarabach gegen die Blockade – hier am 29. Juli. Die gezeigten Bilder stammen von der Fotografin Ani Balayan, die in Stepanakert lebt. © Ani Balayan
Wie nennt man das, wenn ein Landstrich von der Welt abgeschnitten ist, wenn keine Medikamente mehr durchkommen und Kranke zu Fuß die Kliniken erreichen, weil keine Rettungswagen mehr fahren und kaum noch Autos, ohne das nötige Benzin? Wenn die Regale in den Supermärkten leer sind, wenn sich Menschen frühmorgens stundenlang für Brot anstellen und doch keines kriegen? Wenn die Fehlgeburtenrate in die Höhe schießt, weil Schwangere nicht mehr versorgt werden? Wenn Hunde und Katzen durch die Straßen streunen, weil ihre Besitzer selbst kaum zu essen haben und die Tiere aussetzen? Nina, 23 Jahre alt, Grundschullehrerin aus Bergkarabach, nennt es so: "Wir erleben einen langsamen Genozid."
Das sei es, was die Armenier durchmachten, die in der Enklave Bergkarabach leben, um die seit Jahrzehnten zwischen Aserbaidschan und Armenien gestritten wird. Wer dem armenischen Premier Nikol Paschinjan und seinem Erzgegner, dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew, bei einem ihrer seltenen gemeinsamen Auftritte zuhörte, fand aus dem Wust aus historischer Rechthaberei, die Jahrhunderte umspannt, schwerlich wieder heraus. 1991 erklärte sich die Enklave, mittlerweile nahezu vollständig von Armeniern bewohnt, als Republik Arzach für unabhängig – sie wird aber international nicht anerkannt; völkerrechtlich gehört das Territorium zu Aserbaidschan. Gleichzeitig scheinen sich die Ängste der dort lebenden Armenier zu bestätigen: Alle Welt könne nun sehen, was für eine Katastrophe es wäre, wenn sie Aserbaidschan zugeschlagen würden.
Auf dem Markt © Ani Balayan
Mit wem man dieser Tage in Bergkarabach auch spricht, ob mit der Grundschullehrerin Nina, mit der Dozentin Zaruhi Grigorjan, der Kinderärztin Kristine Aghajanjan oder Gegham Stepanjan, dem Ombudsmann für Menschenrechte in Bergkarabach, stets hört man die Schreckensworte des 20. Jahrhunderts: Genozid, ethnische Säuberung, Völkermord. So beschreiben die Betroffenen nicht nur ihren Hunger, ihre katastrophale Versorgungslage. Sie ordnen ihr Leid ein in die historische Erfahrung von 1915, als das Osmanische Reich mithilfe der Deutschen bis zu anderthalb Millionen Armenier getötet hat.
Man zuckt zusammen ob der Wucht dieser Worte, die junge Armenier und Armenierinnen aus Bergkarabach wählen. Spürt, wie sich Widerspruch regt bei dem Versuch, das gegenwärtige Elend auf diese historische Ebene zu heben. Und doch: Der aserbaidschanische Diktator Alijew droht den "Separatisten" damit, dass sie entweder unter aserbaidschanischer Flagge zu leben hätten oder gehen müssten. Seit einem Monat lässt er bis zu 120.000 Armenier in der Enklave regelrecht aushungern. Wenn Armenier eine Wiederholung der Geschichte fürchten, dann führen sie ein machtvolles Wort für das eigene Anliegen. Aber es drückt auch eine echte Angst aus vor dem, was ein Leben unter einer aserbaidschanischen Diktatur für sie bedeuten würde.
Im Dezember hat die Blockade begonnen, zunächst als ein Protest vermeintlicher aserbaidschanischer Umweltaktivisten getarnt: Das Gebiet, mittlerweile rundherum unter aserbaidschanischer Kontrolle, ist nur durch eine Straße von Armenien aus zu erreichen, den Latschin-Korridor. Der wurde von den Aserbaidschanern versperrt. Dann errichteten sie einen Kontrollpunkt; immerhin durften Versorgungsgüter russischer Truppen und humanitäre Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes hinein sowie Krankentransporte heraus. Doch seit einem Monat ist es damit vorbei. Bergkarabach ist weitestgehend abgeschnitten von der Welt. Die Beschreibungen in diesem Artikel beruhen auf Gesprächen mit den eingeschlossenen Menschen. Ihre Informationen lassen sich nicht überprüfen, doch sie decken sich mit dem, was humanitäre Organisationen zuletzt über die Lage vor Ort berichteten.
Die Kinderärztin Kristine Aghajanjan aus Stepanakert, Mutter zweier Kinder:
"Die ganze Zeit bin ich am Rechnen: Wie viele Lebensmittel haben wir noch? Für wie lange reichen sie? Meine Schwester hat vier Kinder, sie weiß nicht mehr, was sie für sie kochen soll. Die Menschen tragen sich nachts in Wartelisten ein, um dann frühmorgens stundenlang für Brot anzustehen. Manche Menschen haben gar nichts mehr. Im Internet macht man Tauschangebote: Biete Salz, suche Butter. Geld ist fast nichts mehr wert."
Der Ombudsmann Gegham Stepanjan:
"Die Aserbaidschaner setzen den Hunger als Waffe ein, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Die Menschen in Bergkarabach werden gewaltsam unterworfen. Aserbaidschan will das Gebiet erobern – ohne die armenische Bevölkerung darin."
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